23.8.14

Weißrussland: Back in the USSR

Freitag, 22. August. Tag 134. Ort: Białystok (PL). Kilometerstand: 7394.

Von Vilnius aus führt die alte Landstraße durch teils polnisch bewohnte Dörfer bis zur nur 35 Kilometer entfernten EU-Außengrenze. Belarus. Weißrussland, in westlichen Zeitungen gerne als "letzte Diktatur Europas" bezeichnet, erschien mehr oder weniger plötzlich auf unserer Reiseroute, nachdem wir uns in Tallinn die benötigten Visa (und eine weißrussische Krankenversicherung für die Dauer des Aufenthalts) besorgt hatten. Schließlich kann eine Reise durch Europa im Jahr 2014 ja nicht nur aus EU-Mitgliedsstaaten und -Kandidaten bestehen.

Polnisch-katholische Holzkirche in Medininkai, dem Grenzort zu Belarus.
Litauisch-polnische Zweisprachigkeit
Von der weißrussischen Grenze und dem damit verbundenen Prozedere (Laufzettel, einige Stempel etc.) liest man hier und da gar unerfreuliche Geschichten, von stundenlangen Wartezeiten, benötigten Schmiergeldern oder Leuten, die im letzten Moment dann doch nicht einreisen durften. Wir können nur soviel sagen: Zu uns als Radlern waren die Beamten mit den landestypisch großen Mützen entgegen aller Erwartungen überaus freundlich und die ganze Sache dauerte eine knappe Stunde, inklusive Wartezeiten. Und plötzlich fahren wir auf einer gut asphaltierten, breiten Straße ohne jeglichen Verkehr in Väterchens Reich.

Schöner mehrspuriger Fernradweg auf weißrussischer Seite. Langsame Grenzkontrollen haben auch Vorteile, zumindest für uns.
 Väterchen (dazulande Batka), das ist der Kosename, den Präsident Alexander Lukaschenko bei den ihm wohlgesonnenen Untertanen genießt. Lukaschenko regiert das Land seit genau 20 Jahren, seitdem er 1994 als Vorsitzender der staatlichen Anti-Korruptions-Kommission den Vorwurf der Bestechlichkeit gegen den damaligen Präsidenten in die Öffentlichkeit trug und bei den anschließenden Wahlen mit nur 39 Jahren selbst zum Präsidenten gewählt wurde.

Anders als in jenen drei Ex-Sowjetrepubliken, die wir zuvor durchquert hatten, tat jedoch Weißrusslands erstes gewähltes Staatsoberhaupt in den folgenden zwei Dekaden alles, um vorzutäuschen, dass die UdSSR niemals untergegangen sei und in seinem Land eigentlich bis heute weiterbesteht. Am auffälligsten ist das bei der Staatsflagge, die nach der Wende für drei kurze Jahre wieder in den alten Nationalfarben weiß-rot-weiß am Mast baumelte, bevor Väterchen der Republik ihre gewohnte sowjetische Fahne zurückgab.

Schon auf den ersten Kilometern fällt die Werbung auf. Sie ist anders als im Rest Europas, zwar ebenso großflächig und bunt, allerdings wirbt sie statt mit halbnackten Models für billige Klamotten mit züchtig gekleideten Grenzsoldatinnen für das Land selbst. Überhaupt ist Belarus und die geforderte Liebe zur Heimat gefühlt das Hauptthema der Sichtwerbung im Land.

Hübsche Werbung I: Für das staatliche Fleischkombinat
Hübsche Werbung II: Ich liebe Belarus! (Gibt es auch mit anderen herzförmigen Dingen)
Hübsche Werbung III: Warum nicht einfach mal für Brot? Muss ja gar kein bestimmtes sein.
 Schon am zweiten Tag sind unsere Portmonees darüber hinaus prall gefüllt mit zahlreichen bunten, aber leider meist wertlosen Scheinen im Nennwert zwischen 50 und 200.000 Rubeln. Weil ein Euro mittlerweile fast 14.000 Rubel kostet, kann man sich jedoch selbst bei gut gefüllter Geldbörse nicht immer sicher sein, wirklich noch einkaufen gehen zu können. Münzen gibt es keine und jeder hockt auf seinem wertvollen Wechselgeld. Das ist zunächst gewöhnungsbedürftig und verlängert die Prozedur des Bezahlens in Geschäften ungemein. Was aber nicht weiter schlimm ist, weil in den meisten Läden sowieso die Zahl der Angestellten jene der Kundschaft weit übertrifft. Die Warenauswahl ist dafür relativ klein, so finden sich auf dem Land meist zwei bis drei Käsesorten (kein Weichkäse, kein Frischkäse), ein paar Sorten Wasser, reichlich Konserven und ein bisschen abgepacktes Brot. Das einzige, was in allen erdenklichen Varianten, Größen und Geschmacksrichtungen vorrätig ist, ist Schnaps. Billiger Schnaps. Väterchen stürzt nicht, solange genug zu saufen da ist.

Monopoly auf Weißrussisch (Gegenwert unter 15 Euro).
In Aschmjany, dem ersten Ort hinter der Grenze, erklärt uns ein Afghanistan-Veteran im Matrosenhemd beim abendlichen Bier, warum Lukaschenko auch noch 20 weitere Jahre herrschen wird und dass er Belarus zur Schweiz des Ostens machen werde. Ob er damit auf Batkas ewigen Schlingerkurs zwischen Russland und der EU anspielt oder auf den zu erwartenden Wohlstand, bleibt mangels fortgeschrittener Russisch-Kenntnisse unklar. Ein ebenfalls anwesender junger Moskauer Journalist auf der Durchreise versucht, mit Argumenten zu kontern, hat aber gegen die Liebe zum Führer keine Chance.

Von Aschmjany und über Waloschyn (Orte haben in Weißrussland immer mindestens zwei Namen – Weißrussisch und Russisch – die meist auch noch unterschiedlich ins Englische übertragen werden) fahren wir durch Dörfer, die bis zum Zweiten Weltkrieg zum größten Teil jüdisch bewohnt waren, vorbei an einer imposanten Schlossruine, unzähligen bunt gestrichenen Holzhäusern und einigen Kriegsdenkmälern in Richtung Minsk.

Dem Verfall preisgegebene Schlossruine bei Halschany. Für Denkmalschutz reichen Geld und politischer Wille nicht aus.
Deutscher Kriegsgräberfriedhof aus dem Ersten Weltkrieg.
Überall bunte Häuser.
Überhaupt, der Krieg. Weißrussland war einer jener Landstriche in Europa, die nach dem Zweiten Großen Krieg am meisten zerstört und einen großen Teil ihrer Zivilbevölkerung verloren hatten. Das lag wohl auch daran, dass sich gerade im heutigen Norden und Westen des Landes seit dem 14./15. Jahrhundert viele jüdische Schtetl gegründet hatten und ganze Regionen, gerade auch ländliche, mehrheitlich von Juden bewohnt waren, sonst ja eher eine Seltenheit in Europa. So wurde beispielsweise der Ort Wischnewa, Heimat des früheren israelischen Präsidenten Schimon Peres, durch den Holocaust fast seiner gesamten Einwohnerschaft beraubt. Vom jüdischen Friedhof am Ortsrand haben wir nur noch einige wenige übrige Grabsteine entdecken können.

Letzte Reste des jüdischen Friedhofs in Wischnewa, dem Heimatdorf von Schimon Peres.
Straßenszene in Rakow, Rakau, Rakaw oder wie man das auch immer schreiben will.
In Waloschyn versuchen wir, ein Hotelzimmer zu bekommen, welches sich jedoch als zu teuer für uns herausstellt. Überhaupt sind Unterkünfte hier (im Unterschied zu Alkohol, Zigaretten, Benzin und anderen Lebensmitteln) nicht wirklich billiger als in den benachbarten EU-Staaten. Da das Hotel jedoch staatlich betrieben wird, hat eine der Angestellten kein großes Problem damit, uns für wesentlich weniger Geld ihre private Gästewohnung im Plattenbau zur Verfügung zu stellen. Auch gut und vor allem viel authentischer.

Blick aus der Ferienwohnung in Waloschyn.
Kirche in Rakow.
Die letzten 20 Kilometer bis nach Minsk nutzen wir mangels asphaltierter Alternativen den großzügigen Standstreifen der mehrspurigen Schnellstraße, was sowohl erlaubt als auch sehr angenehm zu fahren ist. Und dann tauchen auch schon die ersten Zwanziggeschosser der Minsker Vorstädte am Horizont auf. Erbaut deutlich nach der Wende, allerdings im alten Ostblock-Stil. Zwar sinkt die weißrussische Bevölkerungszahl insgesamt stetig (die Lebenserwartung für Männer liegt bedingt durch Alkohol, Umweltverschmutzung, hohen Raucheranteil, ungesunde Ernährung, weite Entfernungen zum nächsten Krankenhaus und vielleicht noch ein bisschen Tschernobyl-Spätfolgen bei 62, jene für Frauen auch nur bei 74), Minsk jedoch wächst weiter. Das liegt wohl auch daran, dass auf dem Land nicht viel zu holen ist und fügt sich damit in den weltweiten Trend. 

Highway to Minsk.
Einfahrt in die "Heldenstadt".
Die weißrussische Hauptstadt ist, verglichen mit den kleinen Dörfern und Städtchen zuvor, eine völlig andere Welt. Im Krieg weitgehend dem Erdboden gleichgemacht, wurde sie danach umso schöner wieder aufgebaut. Schön hier im Sinne von sowjetisch schön. Breite Boulevards, Zuckerbäckerarchitektur, riesige Plätze, zahllose Statuen (Lenin hat natürlich die größte), Hochhäuser und zwischendrin der Gorki-Park mit Kinderbelustigung. Kommunistischer Prunk und Protz vom allerfeinsten, passend dazu auch die Straßennamen, die im Übrigen in jeder weißrussischen Stadt gleich sind: Kommunistische Straße, Sozialistische Straße, Lenin-Straße, Dserschinski-Straße, Oktoberplatz, Sowjetische Straße. Ein sowjetisches Freilichtmuseum oder wohl eher die Sowjetunion, wie sie eben im Jahr 2014 ausgesehen hätte. Allerdings mit überwiegend modernen Geländewagen aus westlicher Produktion.

Hier arbeitet Väterchen.
Da lacht das rote Herz.
Siegesplatz. Natürlich gegen den Faschismus.

Das "Stadttor" gegenüber dem Hauptbahnhof. Bisschen wie Strausberger Platz.
Minsk hat den größten Lenin, dahinter das (aktuelle) Staatswappen.
Da guckt Lenin hin (Regierungsgebäude). In die Richtung hinter Lenin darf man nicht fotografieren, da ist ein anderes, noch wichtigeres Regierungsgebäude. Der KGB, der hier auch noch so heißt, sitzt auch gleich um die Ecke.
Das Minsk darüber hinaus das politische und geografische Zentrum eines strikten Polizeistaates ist, fällt dem Besucher nicht sofort ins Auge. Erst allmählich sieht man an jeder Ecke kleine Grüppchen Uniformierter stehen oder patrouillieren; auch mutet es in einer Zwei-Millionen-Stadt seltsam an, dass die Bürgersteige abends um zehn hochgeklappt sind und nicht einmal am schönsten Sommerabend unten am Fluss gefeiert und getrunken wird. Ist ja auch verboten. Picknicks sieht man in den Parks ebenso wenig wie Liebespaare oder Säufer. Es ist eben alles sehr ordentlich, auf eine unangenehme Art und Weise allerdings.

Da sind noch ein paar Leute am Fluss unterwegs, aber die verschwinden gleich.
Die Babuschki pflegen die Blumen, damit Minsk auch hübsch ist und bleibt.
Breite Straßen, viel Platz für Paraden. Auch das übrigens noch im Stadtzentrum.
Was außerdem auffällt und Minsk unter den bisher von uns beehrten europäischen Großstädten noch einzigartiger macht, ist die beinahe vollkommene Abwesenheit von (ausländischen) Touristen, sieht man von den zwei oder drei jungen Türken im Hostel ab, die allerdings auf Brautschau und somit keine wirklichen Touristen sind. Keine bunten Regenschirme, noch nicht einmal Japaner bereichern das Stadtbild. Eine junge Frau ist ganz entzückt, als wir sie auf Russisch nach einem Bankomaten fragen und sie merkt, dass wir auch Englisch können. Das beherrschen hier sonst nämlich nicht allzuviele. Es ist ein äußerst schwieriges Unterfangen, irgendwo Postkarten aufzutreiben, geschweige denn sonstige Souvenirs. Und selten begreift jemand auf Anhieb, dass einfach unsere Russischkenntnisse nicht so doll sind, wenn wir sagen, dass wir ihn nicht gut verstehen. Das wiederum ist eigentlich ganz angenehm; muss ja nicht gleich jeder wissen, dass wir von außerhalb sind.

Noch immer Stadtzentrum. Eine richtige Altstadt im eigentlichen Sinne gibt es nicht (mehr), man versucht sich aber gerade an der Rekonstruktion eines kleinen Stadtviertels. Sieht allerdings eher nach Disneyland aus.
In der Minsker Metro.
Oktoberplatz, Ecke Unabhängigkeitsboulevard.
Ein Highlight unseres dreitägigen Aufenthalts in Minsk ist der erst im Juli durch Väterchen und seinen russischen Amtskollegen eröffnete Neubau des Museums des Großen Vaterländischen Krieges. Ein durch und durch moderner Bau (allerdings mit den üblichen Großreliefs, die die Heldentaten der Roten Armee in Stein gehauen darstellen) und auch innen nach modernsten Standards. Interaktiv, multimedial, visuell top. Allerdings kommt auch das gute alte Schlachtengroßgemälde zum Zug. Erzählt wird natürlich trotzdem die alte Story vom Kampf zwischen Böse (Faschisten) gegen Gut (Rote Armee), unter Weglassung sämtlicher störender Grautöne, wie sie zum Beispiel die Kollaborateure und Deserteure oder auch der stalinsche Terror hinter der Heimatfront dargestellt hätten. Und so passt das ganze dann auch ganz gut in die brandaktuelle Zeitgeschichte und man wundert sich kaum noch, dass Putin, der derzeitige Anführer des weltweiten Kampfes gegen den Faschismus, die Türen öffnen durfte.

Der Museumsneubau (der Obelisk ist alt, passt aber stilistisch ganz gut dazu).
Blick in die andere Richtung, vom Museum Richtung Innenstadt.
Daneben feinste Partisanenromantik. Bella ciao!
Auch monumentale Schlachtengemälde dürfen nicht fehlen; der Vordergrund ist plastisch.
Wozu das Museum dem hiesigen Regime dient, wird nicht einmal subtil verhüllt. Der Erste, dem man im Foyer begegnet – noch vor den Kartenabreißerinnen – ist Väterchen, wie er vom Beamer an die Wand geworfen in Endlosschleife eine Militärparade abnimmt. Und auch im letzten Ausstellungsraum, der etwas versteckt liegt, geht es mitnichten um den Großen Vaterländischen Krieg, sondern um die aktuelle Führung und ihre Armee. Das Lukaschenko erst 1954 geboren wurde und somit per Definition nichts mit dem Krieg zu tun hat, stört kaum, eines ist glasklar: Er ist der (einzige) Mann, der die Weißrussen vor allen Faschisten beschützen wird und steht damit in der Tradition der ruhmreichen Rotarmisten. Sauber hingebogen.

Väterchen begrüßt die Besucher...
...und verabschiedet sich auch wieder von ihnen.
In der Kuppel des Museums ist die sogenannte Siegeshalle untergebracht. Wozu sie dient, ist mir nicht ganz klar geworden. Aber vermutlich kann man von da ganz gut Reden an die Nation halten.
Nach ein paar Tagen wird man vom vielen Sich-klein-fühlen auf den breiten Straßen und weiten Plätzen ein wenig blöde im Kopf und darum verlassen wir Minsk in Richtung Südwesten. Mit dem Vorortzug, für einen symbolischen Rubelbetrag. Den Fahrschein will dann auch keiner sehen. Auf dem Weg zum Bahnhof folgen uns die Augen von Hunderten Minskern, die kaum verstecken können, dass sie Reiseradler für etwas seeehr seltsames halten. Aber das beruht dann ja auf Gegenseitigkeit.

Auch hübsch und direkt im Zentrum.
Und der etwas einfallslose Neubau der Nationalbibliothek, auf den man allerdings sehr stolz ist. Oben gibt es eine Besucherplattform auf 70 Metern Höhe, allerdings sieht man außer Plattenbauten und Wald nicht viel, weil die Bibliothek am Stadtrand erbaut wurde.
Hier wechselt die Formensprache ins orthodox-ikonische. Ist aber trotzdem Gagarin.
Vorbei am Mirski Zamok (Weltkulturerbe, aber nur von außen gesehen) und durch einen Wald, in dem ein unscheinbares Schild vor dem Sammeln von Pilzen und Beeren ohne radiologische Untersuchung warnt, kommen wir nach Lida, eine weitere Ansammlung von Plattenbauten mit einer alten Burg in der Mitte. Zwischen den weit voneinander entfernten Orten immer entweder endloser Birkenwald oder Getreidefelder bis zum Horizont. Aber zumindest sind die Straßen besser als etwa in Lettland.

Hier bitte keine Pilze sammeln.
Die Burg von Lida.
Stroh, soweit das Auge reicht.
In den kleinen Städten lebt noch der gute alte östliche Servicegedanke, nämlich das es keinen Service gibt. In einem Restaurant (laut Aushang und offener Tür eindeutig geöffnet) werden wir barsch mit "Wir arbeiten nicht!" vor die Tür gesetzt, im nächsten müssen wir erst dreimal fragen, noch einmal gehen und danach wiederkommen, ehe die Bardame von ihrer Position abrückt, es gäbe bei ihr überhaupt kein Essen. Der voll besetzte Tisch in der Ecke und die benutzten Teller und Bestecke waren dann doch zu offensichtlich. Wie sich herausstellt, aß die – nachmittags um vier ordentlich betrunkene – Gesellschaft nur Kartoffelpuffer, was ja nach unserem Dafürhalten auch so etwas wie eine Mahlzeit ist. Die Städtchen außerhalb von Minsk machen auch allgemein einen relativ verwahrlosten und traurigen Eindruck, der natürlich erst richtig zur Geltung kommt, wenn man vorher in der glänzenden Metropole war.

Machen einen traurigen Eindruck: Orte außerhalb von Minsk.
Aber wenigstens die Straßenschilder halten die guten alten Zeiten hoch.
In Osjory kurz vor Grodno werden wir bei der abendlichen Bierpause von einem Paar angesprochen, das zuvor schon bemerkt hatte, dass wir mit unseren ausländischen Karten kein Geld aus dem Automaten bekommen. Erst bieten sie uns an, Rubel gegen Euro zu tauschen, dann werden wir zum Kaffee und Abendbrot in die auf der anderen Straßenseite befindliche Datscha geführt. Das Abendbrot ist fürstlich, die selbstgebaute Dusche in einer Holzhütte auch und selbstverständlich wird weiteres Bier und Wodka zum guten Gespräch gereicht – unser grundsätzlich sorbisches und mit einigen polnischen und englischen Worten gewürztes Russisch wird schließlich auch von Glas zu Glas besser. Wir übernachten also bei Wolodja und Larisa auf der Couch und werden, bevor wir nach dem wiederum üppigen Frühstück in Richtung Grodno abfahren, schonmal zu Abendbrot und Übernachtung in die Stadtwohnung eingeladen.

In Grodno, dem Zentrum des westlichen Belarus kurz vor der polnischen Grenze, haben wir gleich noch einen Termin mit der Lokalzeitung, wiederum arrangiert von Larisa. Ansonsten gibt es in der Stadt ein paar katholische Kirchen und zwei Schlösser auf dem hohen Ufer der Memel (ja, schon wieder), von denen eines unter sächsischer Herrschaft erbaut wurde, als Grodno noch zu Polen gehörte. Der Abend endet bei Fleisch, Schnaps und der aktuellen Berichterstattung aus der Ukraine (russische Perspektive) in einer geräumigen zweietagigen Plattenbauwohnung am Stadtrand, wo Larisa, Wolodja nebst Tochter und Schwiegersohn für 30 Euro Monatsmiete leben. Zwar liegt ein guter Monatslohn auch nur bei 300 Euro, aber die Mietpreise sind zumindest mal etwas Positives, was hier vom Sozialismus übrig geblieben ist. Wie sich herausstellt, sind die jüngeren Leute hier und auch anderswo im Land dann gar nicht mehr so enthusiastisch, wenn es um ihr Väterchen und sein Belarus geht, sondern wollen lieber offene Grenzen zur EU.

Ortseingangsdings von Grodno. Jede Stadt hat sowas.
In Grodno.
In Grodno.
Das Alte Schloss auf dem hohen Ufer der Memel.
Schloss (hinten), Theater (rechts) und Memel (unten).
Saubere Grodnoer Vorstadt.
Im Übrigen: Ich liebe dich, Belarus! Echt jetzt.
Noch etwas zu Sprachen: Vielleicht ist es aufgefallen, dass die ganze Zeit fast nur vom Russischen die Rede war, obwohl das Weißrussische ja sehr wohl existiert. Es fristet nur eben (nicht erst seit Lukaschenko, aber seitdem erst recht) ein Nischendasein als gesprochene Sprache vor allem der (katholischen) Landbevölkerung im Norden und Westen, während offizielle Verlautbarungen, Zeitungen, Fernsehen und Werbung fast ausschließlich russisch gehalten sind. Auf die Frage, ob sie Weißrussisch spreche, verneinte eine junge Frau in Minsk mit dem Hinweis, sie habe eigentlich persönlich nur einen einzigen Freund, der das alltäglich tue. Und zwar wahrscheinlich, weil er Nationalist sei. Und Nationalismus ist dann ja fast schon Faschismus, vor dem Väterchen seine Untertanen beschützen möchte. Auch er selbst spricht fast ausschließlich Russisch, seine erste offizielle Ansprache auf Weißrussisch hielt er erst dieses Jahr, wohl um die Eigenständigkeit seines Landes gegenüber Putin zu betonen, wie vermutet wurde. Zur Verwirrung trägt bei, dass z.B. Straßenschilder oft auf Weißrussisch sind, Stadtpläne jedoch andere, nämlich russische Straßennamen zeigen. Die Stationsansagen in der U-Bahn erfolgen auf Weißrussisch, ausgeschildert sind die Stationen jedoch auf Russisch, was vielleicht keinen Einheimischen irritiert, wohl aber den Besucher. Aber davon gibt es ja eben kaum welche. Und zu guter Letzt gibt es für das Weißrussische auch mindestens drei Rechtschreibungen, eine davon sogar mit lateinischen Buchstaben, die das Chaos perfekt machen. Schade eigentlich, denn für den gemeinen Westslawen ist Weißrussisch ungleich einfacher zu verstehen.

Straßenschilder auf Weißrussisch (deswegen auch Wulica und Kiraw statt Ulica und Kirow).
Von Grodno fahren wir noch 18 Kilometer bis zur polnischen Grenze, haben wiederum keine Probleme mit den Beamten, die sich darüber freuen, dass Lenka ein offizieller Vorname sein kann und betreten wieder EU-europäischen Boden, um ein paar bunte Scheine mit vielen Nullen und einige eindrückliche Erinnerungen reicher.

Trotz Zwiebelturm und Doppelkreuz: Zum Glück schon Polen.
Im tiefen Osten Polens, der sich nach elf Tagen Belarus sehr heimatlich anfühlt, erholen wir uns erst einmal eine Woche am See, in Gesellschaft von Anne, Georg und gutem Bier. Schließlich wartet in der nächsten Woche schon die nächste Ex-SSR auf uns, doch dazu später.

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