6.8.14

Baltikum I


Mittwoch, 6. August. Tag 117. Ort: Minsk. Kilometerstand: 6903.

Labas! Die drei bisher wärmsten Wochen dieses Jahres liegen hinter uns, gekrönt von vier Tagen über 30 Grad in Litauen; dazu gab es feinsten Gegenwind und vor Kaunas schließlich ein ordentliches Gewitter, das erstmal ein bisschen Abkühlung brachte.

Nach einem kurzen Schlenker durch den (überwiegend schwedischsprachigen) Süden Finnlands setzen wir am 6. Juli von Helsinki mit der Schnapsfähre (früher berüchtigt für zahlreiche finnische Sauftouristen, die den beachtlichen Unterschied im Alkoholpreisniveau zwischen Finn- und Estland ausnutzten) nach Tallinn über.

Wenn schon alle denken, dass wir Russen sind...
In Schwedisch-Finnland.

Ankunft in Tallinn: Das Rathaus.
Die alte Hansestadt, das frühere Reval, beeindruckt mit einer sehenswerten mittelalterlichen Altstadt, ihren schlanken Türmen und der über allem thronenden Burg, die einen Blick über Stadt und Bucht bietet. Natürlich ist sie im Sommer auch voller Touristen, vor allem auch vieler Deutscher, die hier mit Kreuzfahrtschiffen Station machen.

Die trutzigen Stadtmauern des alten Reval.
Orthodoxe Alexander-Newski-Kathedrale.
Altes und neues Tallinn.
Blick vom Burgberg über die Altstadt.
Neben den Rundgängen durch die mittelalterliche Stadt, in der an jeder Ecke die dazu passende Musik dudelt, über die Burg, durch die engen Gassen und Torbögen besuchen wir auch das Estnische Okkupationsmuseum. Das soll eigentlich an drei Okkupationen und ihre Opfer erinnern, nämlich die sowjetische (1940-41), die deutsche (1941-44) und die zweite sowjetische (1944-91). Weil allerdings in Estland der Russe in den letzten 100 Jahren der Hauptfeind war und die Besetzung durch die Wehrmacht auch "nur" drei Jahre anhielt, kommt dabei inhaltlich einiges abhanden. Am schwersten wiegt das in puncto Holocaust. Dass Estland der erste offiziell "judenfreie" Gau war, findet keine Erwähnung. 

In Tallinn besorgen wir uns außerdem ein Visum für Belarus und schauen Fußball, Deutschland gegen Brasilien. Das Ergebnis ist ja bekannt.

An der Ostseeküste entlang fahren wir in den Lahemaa-Nationalpark und übernachten an der Spitze der Halbinsel Juminda auf einem einfachen Zeltplatz. Solche Plätze gibt es in Estland einige, da sind dann eine Feuerstelle, ein Plumpsklo und ein Brunnen vorbereitet und erwarten müde Reisende. Auf Juminda erinnert ein Denkmal an Hunderte Zivilisten, die im Meer vor der Halbinsel während des Zweiten Weltkrieges zu Tode kamen, weil ihre Schiffe auf Seeminen liefen.

Der estnische Niagara zwischen Tallinn und Lahemaa.
Nicht mehr so weit bis Petersburg, sofern man ein Visum hat.
Sonnenuntergang auf der Halbinsel Juminda.
Glockenblumenwiese im Lahemaa-Nationalpark.
Unsere Reise führt uns weiter in den Osten Estlands, an das Ufer des Peipussees, der immerhin der fünftgrößte See Europas ist und in der Geschichte eine gewisse Bedeutung vor allem durch die Schlacht auf dem See erlangte, in der im April 1242 russische Truppen die Ritter des vordringenden Deutschen Ordens auf dem zugefrorenen Peipus zurückschlugen. Ruinen von Deutschritterburgen sind im ganzen Baltikum auch ziemlich allgegenwärtig. Am Peipus, dessen gegenüberliegendes Ufer (Russland) man nicht sehen kann, leben noch Altgläubige, orthodoxe Russen, die das Westufer des Sees im 18. Jahrhundert besiedelten. Aber selbst hier wird unsere blau-rot-weiße Trikolore für die Flagge Russlands gehalten.

Alte Deutschritterburg in Rakvere.
LPG-Tankstelle auf dem Land.
Am Ufer des fünftgrößten europäischen Sees, der höhere Wellen macht als die Ostsee.
Peipus.
Altgläubiges Dorf am Peipus-Ufer.
In (oder bei) Tartu, der zweitgrößten Stadt des Landes, die gleichzeitig Sitz der ersten estnischen Universität und kulturelles Zentrum ist, verbringen wir drei Tage mit Axel und Katrin und erholen uns ein wenig. Überhaupt sind wir etwas langsamer unterwegs, seitdem wir die große Runde um die ganze Ostsee aufgegeben haben. Das estnische Nationalmuseum, ebenfalls dort angesiedelt, zeigt ein bisschen zu viele Trachten und alte Haushaltsgegenstände und etwas zu wenig moderne estnische Geschichte. Aber da ist es ja nicht das einzige Nationalmuseum, das man so kennt.

Domruine in Tartu ("deutsch" früher Dorpat).
Holzhäuser unweit der Tartuer Altstadt.
Früher gabs noch zweisprachige Straßenschilder, heute nicht mehr.
Das Tartuer Rathaus.
Durch den hügeligen estnischen Südosten kommen wir schließlich nach Lettland, das insgesamt deutlich ärmer wirkt als sein nördlicher (und wie wir später sehen, auch sein südlicher) Nachbar. Für Fahrradfahrer kein wirklich tolles Land; abgesehen von den Hauptstraßen sind viele Wege nicht asphaltiert, und die Hauptstraßen dafür stark befahren und ohne breiten Seitenstreifen. Zudem scheinen lettische LKW-Fahrer irgendwie davon auszugehen, dass Radler auf dem Schotter neben der Straße fahren sollten und setzen ihre Meinung auch relativ konsequent durch.

Hügeliges Südostestland.
Immer rauf und runter gehts auch auf lettischen Straßen.




Die Burgruine von Koknese am Düna-Stausee. Die Burg wurde anno dazumal übrigens von sächsischen Truppen zerstört.
Entlang der Düna (lettisch Daugava), die seit sowjetischen Zeiten eigentlich auf ganzer Länge durchgestaut ist, kommen wir nach Riga. Auch die baltische Metropole ist nicht gerade ein Radlermekka. Vermeintliche Radwege entlang der großen Straßen enden entweder im Nichts, an hohen Bordsteinen oder einer Treppe. Davon abgesehen eine schöne Stadt. Die Altstadt kann mit Tallinn nicht ganz mithalten, dafür jedoch findet sich direkt daran anschließend eines der größten Jugendstilviertel Europas, zu großen Teilen noch unsaniert. Die Hälfte der Einwohner Rigas ist russischsprachig und das hört man auch. Überhaupt hat Lettland, wo die namensgebenden Letten nicht einmal zwei Drittel der Bevölkerung stellen, noch viel größere innere Schwierigkeiten mit seiner russischen Minderheit als Estland. Viele Russen haben bis heute keine Staatsbürgerschaft, sofern sie oder ihre Vorfahren nach 1940 eingewandert sind – nach lettischer Auffassung also unter sowjetischer Besatzung und damit illegitim. Die Perspektive der baltischen Staaten ist da sicherlich verständlich, aber eine dauerhafte Lösung ist das nicht, wenn ein Fünftel der Bevölkerung nicht wählen darf.

Zeltplatz mit Ausblick.
Die Rigaer Markthalle.
Der Sitz der Akademie der Wissenschaften aus sowjetischer Zeit.
Riga verfügt über eines der größten Jugendstilviertel der Welt.
Streetart. Die Angst vor dem russischen Bären hat im Baltikum natürlich gerade Hochkonjunktur.
In Riga übernachten wir auf einem Zeltplatz fast direkt gegenüber von Altstadt und Hafen, der zwar dementsprechend nicht ganz ruhig ist (Kies wird offenbar vorwiegend nachts verladen), aber dafür eine schöne Aussicht hat.
Das Freiheitsdenkmal.
Die drei ältesten rigaischen Häuser.
Düna und Altstadt.
Blick zum Hafen (wieder vom Zelt aus).
Wir verlassen die lettische Hauptstadt über den so ziemlich einzigen längeren Radweg des Landes, der ins Seebad Jurmala führt, wo wir uns kurz unter die sonnenbadenden russischen Touristen mischen und in die Ostsee springen.

Teil 2 (Von Lettland nach Litauen) folgt in Kürze.

Mehr Fotos von der ganzen Reise gibt es übrigens hier und einen Überblick über unsere bisherige Route dort.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen