18.5.14

Tour de France I: Zurück nach Mitteleuropa

Sonntag, 18. Mai. Tag 38. Ort: Palinges. Kilometerstand: 2171.

Nachdem wir in La Ciotat zwei Tage lang ausreichend Kraft tanken konnten, begeben wir uns am Tag der Befreiung auf eine harte 100-Kilometer-Etappe, die gleich am Anfang einen ordentlichen Anstieg hinauf auf die höchsten Klippen Frankreichs zu bieten hat. Der Ausblick aus 360 Metern Höhe gerade herab ins Meer ist die Mühen allerdings wert. Die Panoramastraße Route des Crêtes wurde erst 1969 eröffnet und ist selbstverständlich ein Magnet für Caravaner und Motorradfahrer, auch ein paar Radfahrer (sogar noch zwei andere mit Gepäck) haben wir gesehen.

Am Cap Canaille.
Zum Glück fahren wir da nur hinunter. Uns entgegen kam ein schwer beladener Reiseradler – natürlich schiebend.


Über Cassis und den Col de la Gineste, über den sich im Hinterland der sogenannten Calanques, einer fjordartigen Küstenlandschaft, die Nationalstraße nach Marseille windet, gelangen wir in die zweitgrößte Stadt Frankreichs, die gleichzeitig auch der zweitwichtigste Hafen Europas ist.

In Marseille selbst, das mit seinem sechsspurigen Prado ganz offensichtlich mal den Champs-Elysée Konkurrenz machen wollte, bleiben wir nur eine knappe Stunde. Ein schöner Ort, aber viel zu viel los. Allerdings ist es auffällig, dass trotz des starken Verkehrs sehr entspannt gefahren und beinahe vorbildlich überholt wird.




Die Vororte der Hafenstadt machen dann schon einen eher uneuropäischen Eindruck und erinnern fast schon an Marseilles Partnerstadt Marrakesch, was sicherlich zum Teil an den Bewohnern und der damit verbundenen Dominanz nordafrikanischer Bistros liegt, aber auch an den bis auf wenige Ausnahmen nur zweistöckigen Gebäuden, den großen handgemalten Werbebildern an den Wänden und den zahlreichen Autowerkstätten.

Hinter Marseille führt uns unser Weg entlang am Étang de Berre, einer großen, flachen Meeresbucht, die aber heute nur noch durch einen schmalen Kanal mit der offenen See verbunden ist. Der Étang ist umgeben von Autobahnen, dem Marseiller Flughafen, diversen Industriegebieten und Raffinerien und lädt eher weniger zum Baden ein.


Vor Saint Chamas kommen wir an der Flavischen Brücke vorbei, einer über 2000 Jahre alten und dennoch sehr gut erhaltenen römischen Hinterlassenschaft. Die Löwen auf den beiden Triumphbögen wurden wohl zwischendurch mal erneuert, aber ansonsten hat man hier Baukunst aus einer Zeit vor sich, als in Germania hinter dem Rhein gerade mal das Holzhaus erfunden war.



In Miramas übernachten wir bei Frédéric, einem Reiseradler und Dichter, mit dem wir bis in die Nacht über Radeln in Skandinavien und Osteuropa (u.a. Belarus, Ukraine, Krim) und vieles andere reden. Hier noch mal vielen Dank!

Der nächste Tag bringt uns durch kleine provenzalische Nester nach Avignon, das alte Ersatzrom mit seinem etwas seltsam anmutenden Papstpalast. Offenbar waren weder Symmetrie noch goldener Schnitt im 14. Jahrhundert bereits erfunden, anders lässt sich das Antlitz des festungsartigen Baus, bei dem kein Fenster über dem anderen sitzt, kaum erklären.



Auf dem Radweg entlang der Rhône gelangen wir an die Ardèche, wo unser Weg über die nächste Panoramastraße, diesmal hoch über den (zu Recht) berühmten Schluchten bis hin zum Pont d'Arc, einer gigantischen natürlichen Steinbrücke über den Fluss führt. Unterwegs viele Motorradfahrer und Oldtimer, deren Fahrer der Meinung sind, mit Motor führe es sich besser, die aber bei der Abfahrt auch nicht mithalten können.






Der "badende Hund".

Hinter Vallon, einem ziemlich touristischen Örtchen am oberen Ende der Schluchten, beginnt das Zentralmassiv. Über Aubenas arbeiten wir uns 1000 Höhenmeter bis nach Mézilhac hinauf, ein kleines Bergnest auf 1100 Metern mit etwas über 100 Einwohnern. Aufgrund des kalten Windes und der fortgeschrittenen Zeit entscheiden wir uns für eine Übernachtung im kleinen Hotel am Pass und behalten uns die Abfahrt nach Le Cheylard für den nächsten Morgen.


Service für Radfahrer: Ein Überblick über die Steigung auf dem nächsten Kilometer und die verbleibende Strecke.
Mézilhac (1119m).


Drei Tage sind wir im Zentralmassiv unterwegs, meistens zwischen 900 und 1200 Metern und daher begleitet von sehr abwechslungsreichem Wetter (schneidender Wind, strahlender Sonnenschein, Graupelschauer und Nieselregen, kalte Nächte) und dann – nach der letzten Abfahrt – auf einmal wieder in Mitteleuropa. Die Dächer sind steiler (für den Schnee), die Berge grüner, keine Schluchten mehr und keine Olivenbäume.


Frankreich: Oft sehr locker, dann wieder seltsam exakt.  


An der Loire und ihren Seitenkanälen entlang geht es direkt in Richtung Norden, wo schon die Mitternachtssonne ruft. Allgemein lässt sich zum französischen Abschnitt bisher sagen, dass die Leute deutlich freundlicher auf Radler reagieren als in Italien, ab und an zeigen sie mal einen Daumen, winken oder rufen Bravo, es wird nachgefragt, wohin man fährt und woher man kommt. Auch unser erstes Interview für eine Regionalzeitung haben wir schon hinter uns – allerdings wohl eher, weil der Reporter unsere Flagge für die russische und uns daher für sehr weit gereist hielt. Machte aber nichts, er wollte trotzdem mit uns reden.


Hoch über der Loire in Chambles

Fachwerk in der Altstadt von Saint Rambert
Ganz wichtig in Frankreich: Immer ein Baguette gut sichtbar am Rad angebracht mitführen.
Der Loire-Seitenkanal (mit Radweg)
Kostenloser Naturzeltplatz in Artaix
Wie man vermutlich merkt, gibt es nicht allzuviel Außergewöhnliches zu berichten, was aber auch daran liegt, dass wir nun einmal in Mitteleuropa unterwegs sind, wo alles schön ordentlich und geregelt seinen Gang geht, was ja auch mal ganz angenehm sein kann. Das mir persönlich trotzdem weiterhin der Osten lieber ist, liegt allerdings nicht nur daran, dass man dort keine 0,25-Liter-Flaschen kennt.

Nach dem heutigen sonnigen Ruhe- und Waschtag in Palinges begeben wir uns morgen auf die Piste in Richtung Verdun (über Dijon, die zweite große europäische Senfstadt).

9.5.14

Cinque Terre, Ligurien und die blaue Küste

Mittwoch, 7. Mai. Tag 27. Ort: La Ciotat. Kilometerstand: 1527.

Salut! In den letzten elf Tagen sind wir ein gutes Stück vorangekommen, haben das Land gewechselt und uns jetzt – kurz vor Marseille – nach zweieinhalb Wochen mal wieder einen Ruhetag verdient. Also Zeit für ein paar Eindrücke.

In Massa verlassen wir die Toskana in nördliche Richtung und sind in den nächsten Tagen hauptsächlich direkt an den Küsten Liguriens unterwegs. Zwischen La Spezia und Sestri Levante liegen die berühmten Cinque Terre, eine schroff aus dem Mittelmeer aufsteigende Steilküste mit fünf Buchten, die besiedelt sind – daher auch der Name. Über den Klippen erstrecken sich terassenförmig angelegte Weinberge und Olivenhaine – die Gegend steht völlig zu Recht auf der Liste des Weltnaturerbes.

 



Eigentlich war es unser Plan, in den kleinen (aber von Tagestouristen auch Ende April schon völlig überlaufenen) Küstenort Manarola in eine jener Buchten hinabzufahren, um dann auf einem Wanderweg direkt am Meer weiterzukommen. Leider stellt sich nach 400 verlorenen Höhenmetern unten heraus, dass eben jener Weg seit den Unwettern von 2008 aufgrund mehrerer Erdrutsche gesperrt ist.



 
Da es schon relativ spät am Abend ist, entscheiden wir uns dagegen, den steilen Serpentinenweg wieder hinaufzufahren und begeben uns stattdessen zum Bahnhof von Manarola. Die Dörfer der Cinque Terre sind nämlich durch die Eisenbahn mithilfe zahlreicher Tunnel (die Bahn kommt eigentlich nur an den Stationen zum Vorschein) deutlich besser erschlossen als durch Straßen.

An der dortigen Information sagt man uns, dass es drei Buchten weiter einen schönen Campingplatz gäbe. Wild zelten oder bei Bauern um Erlaubnis fragen kommt an der Küste kaum in Frage, schon mal deswegen, weil es kaum ebene Wiesen gibt. Wie auch immer, die Information stellt sich als falsch heraus, ein Zeltplatz existiert in Monterosso nicht.

Glücklicherweise ist man nach dem Bau der neuen Bahnstrecke auf die Idee gekommen, die Tunnel der alten Linie künftig für Fußgänger und Radfahrer zu nutzen und hat auf diese Weise immerhin drei Buchten miteinander verbunden. Durch diesen Umstand können wir unter Umgehung jeglicher Serpentinen doch noch einmal die Bucht wechseln und landen schließlich in Levanto, dem Hauptort der Cinque Terre, wo wir unser Nachtlager beziehen.

 

Der nächste Tag begann mit strömendem Regen, was auf den ersten zehn Kilometern (eben auf dem größtenteils unterirdischen Radweg) kaum auffiel. Danach müssen wir die Küste allerdings erstmal verlassen und uns von 0 auf knapp über 600 Meter hinaufarbeiten, alles bei schönstem Nieselwetter. Während man in Italien sonst ziemlich häufig auf Rennradler trifft, ist an diesem Sonntag aufgrund des Wetters selbstverständlich kein einziger unterwegs. Abends treffen wir in Chiavari zwei Radreisende aus Freiburg, die mehr oder weniger in genau entgegengesetzte Richtung unterwegs sind, nämlich von Frankreich aus in Richtung Kroatien und weiter die Donau hinab.

 

Über Rapallo, den Ort der Internationalen Friedensverträge, wie es sich am Ortsschild stolz präsentiert (wer sich nicht mehr erinnert: 1920 Italien–Jugoslawien, 1922 Deutschland–Sowjetunion), nähern wir uns auf der einigermaßen stark befahrenen Küstenstraße Genua. Trotzdem sind auch hier noch ein paar hundert Höhenmeter zu überwinden, da sich die Straße zwischen den Küstenstädten immer mal wieder über ein Bergmassiv quält.





 
Da wir ungern in Genua übernachten wollen, lassen wir die Stadt so schnell wie möglich hinter uns. Das, was im Vorbeifahren zu sehen ist, sieht eigentlich ganz angenehm aus, eben nach einer uralten Handelsstadt am Meer (Kolumbus war Genuese), allerdings wird das mediterrane Ambiente durch mehrere wohl in den siebziger oder achtziger Jahren errichtete Hochstraßen mitten durchs historische Zentrum ziemlich getrübt. Eine andere Chance, als den Verkehr durch die Stadt zu führen, hat man allerdings auch kaum, da sofort hinter der schmalen und dicht besiedelten Küstenlinie steil das Gebirge nach oben steigt.

Westlich von Genua fahren wir durch diverse schon seit der Römerzeit bekannte Hafenstädte, immer am Meer entlang und fast immer mit dem Blick auf den gesamten Ligurischen Golf, was auf die Dauer ziemlich nervig ist, weil man ständig vor Augen hat, wo man vor drei Tagen war. Schöne kleine Städtchen, Motorradfahrer und Rennradler auf den Straßen, Palmen und unglaublich klares Wasser im Meer. Der eigentlich geplante Ausflug in die Ligurischen Alpen muss ausfallen, weil alles, was uns an der Küste in Form von Gewittern und starkem Regen erreicht hat, in den Bergen als Schnee niederging. Das ist uns dann doch zu kühl.







Hinter Ventimiglia, einer kleinen Küstenstadt mit vielen französischen Touristen verlassen wir nach fast drei Wochen Italien und begeben uns auf den französischen Abschnitt unserer Reise. Menton, die erste Stadt in Frankreich, empfängt einen zunächst einmal mit Stau und Chaos. Das soll auch noch eine Weile so bleiben. Für die Nacht arbeiten wir uns 300 Höhenmeter ins Küstengebirge hinauf, weil es im rustikalen provenzalischen Bergdorf Gorbio (mit Blick auf die See) einen kleinen, gemütlichen Zeltplatz gibt.




Den Morgen darauf haben wir nach ein paar Serpentinen gleich ein ganzes Land im Blick – Monaco lässt sich von den umliegenden Bergen tatsächlich vollständig überblicken. Wir begeben uns hinunter in die Straßenschluchten des zweitkleinsten Staates der Welt. Wer auf teure Autos steht, hat hier ordentlich was zu gucken. Im Stau, der auf tatsächlich jeder befahrbaren Straße des Zwergstaates herrscht, ist vom Aston Martin über Maseratis, Ferraris und andere heiße Schlitten alles dabei. Mindestens drei Luxuskarren werden an diesem Tag rechts von Radlern überholt.




 
Nach einem kleinen Umweg durch den Yachthafen und einem teuren Kaffee verlassen wir Monaco, dass sich gerade auf die Formel Eins vorbereitet, wieder und fahren weiter nach Nizza. Viele Hotels, eine schöne Promenade, aber bei Regen alles nicht so das Wahre. Überhaupt erleben wir in dieser Woche nach einem sonnigen Vormittag jeden Tag ein Gewitter, bevor es abends wieder aufklart.

Zwischen Nizza und Marseille erkunden wir ein wenig das hügelige provenzalische Hinterland, das landschaftlich auch so einiges zu bieten hat – Schluchten, klare Flüsse, Weinberge und sogar grüne Wälder. Dazwischen immer wieder urige alte Dörfer und dann Grasse, die Welthauptstadt des Parfüms (und Handlungsort des gleichnamigen Romans). Grasse scheint fest in der Hand seiner Parfümerien zu sein, jedenfalls ist deren Werbung überall präsent; sie schicken sogar einen jener unsäglichen Touristen-“Züge“ durch die engen Gässchen der Altstadt.




 
Kurz vor Carcès nehmen wir eine Abkürzung durch den Wald, die plötzlich zu einem Feldweg wird, der sich nach einigen Metern als vorwiegend aus Lehm bestehend herausstellt. Die Räder blockieren, die Schutzbleche werden völlig zugesetzt, das Zeug klebt überall – nach dem Absteigen auch in dicken Schollen an den Schuhen. Wir entladen die Räder, säubern sie provisorisch und tragen bzw. schieben sie am Gröbsten vorbei. Zwei Kilometer in anderthalb Stunden. Noch zwei Tage später lösen sich beim Fahren von irgendwoher getrocknete Lehmbrocken und zerstieben auf der Straße.

 
Über Carcès und Brignoles fahren wir auf unserer bisher längsten Tagesetappe (82 km) zurück an die Küste, nach La Ciotat („die Stadt“) unweit von Marseille. Unterwegs äußerst wenige Menschen,  die ein seltsames Französisch (nämlich Okzitanisch) sprechen, ein paar verschlafene Nester in ewiger Siesta, viele Schafe, Kiefern, Wein.

Von nun an geht es weiter in nördliche Richtung, das Wetter ist uns wieder hold und die Tour de France kann beginnen.
 
PS: Mittlerweile ist schon der 9. Mai und wir haben Marseille hinter uns gelassen. Darüber mehr im nächsten Blog.